Ultramarsch - Ein Erfahrungsbericht: Kilometer 80 - 100 eines 100+ Kilometer Marsch

Was geht in dir vor nach 80 gewanderten Kilometern?

Das Körperliche ist eindeutig. Du bist fertig! Alles in dir sagt dir: “es reicht“! Die Muskeln in den Oberschenkeln sind heiß und brennen. Manche, um dich herum, benutzten „Ice Power“ und schwören hierauf.

Mit Krämpfen hast du nicht zu kämpfen, da du bereits in der letzten Woche ausreichend Magnesium zu dir genommen hast. Auch während des Marschs hast du etwas „nachgeworfen“ (ob dies sinnvoll ist, bleibt dahingestellt – in jedem Fall schadet es nicht).

Die Füße sind ein besonderes Thema. Viele Läufer kämpfen schon seit etlichen Kilometern mit Blasen und verarzten diese spätestens an den jeweiligen VSP. Auch an dieser Stelle möchte ich nochmals darauf hinweisen die Füße trocken zu halten um Blasen vorzubeugen.

Wenn deine Blasen, wie bei meiner Frau, bereits ab Kilometer 60 extrem waren, solltest du dir überlegen ob du die Schuhe wirklich nochmal ausziehen willst… sie tat es nicht!

Neben deinem körperlichen Befinden ist da jedoch auch noch das geistige und emotionale Empfinden. Du hast bereits 80km hinter dir, d.h. nur noch 20km bis zum Ziel. 20 Kilometer, das ist doch keine Strecke mehr (geht es durch deinen Kopf). Außerdem siehst du in die erschöpften, aber auch glücklichen Gesichter der anderen Läufer. Ja, da sind viele Endorphine in deiner Blutbahn. Endorphine wirken schmerzlindernd und sie werden landläufig, nicht von ungefähr, als Glückshormone bezeichnet.

Lange Rede kurzer Sinn, der Körper wird vom Geist besiegt…

Du stehst auf und hoffst auf weiche, sohlen-schonende, Waldwege. Eine leichte Steigung führt dich jedoch zunächst wieder durch Wohngebiete. Tatsächlich keine schöne, aber wohl notwendige Strecke zum nächsten Wald.

Was soll ich sagen, es gibt immer 2 Seiten. Auf Straßen läuft man zwar hart, dafür aber schneller. Landschaftlich nicht schön, dafür abwechslungsreich. So könnte man bestimmt noch weitere Pros und Contras finden.

Leider folgten nun noch einige Kilometer auf unebenen gepflasterten Straßen. Hier spürst du jede Blase doppelt so stark. Doch auch dieser Streckenabschnitt hat ein Ende. Du erreichst wieder den Waldesrand. Zunächst noch kurz über eine Brücke und dann liegen die nächsten 15km vor dir.

Die ersten 1-2 Kilometer sind schön (eine Wohltat wäre wohl stark übertrieben). Es ist komisch, aber du genießt tatsächlich, wenn auch nur für kurze Augenblicke, die Natur.

Doch früher oder später ist der Endorphinschub abgeklungen. Die Erschöpfung und die Schmerzpräsenz kehren zurück. Du musst dich kurz hinsetzen… nur 2 Minuten ausruhen…

Hinter dir ist niemand zu sehen (du bist immer noch ehrgeizig). Also eine kurze Pause mit deinem Laufpartner-/in abstimmen.

Du kannst nicht einmal sagen, ob es dir guttut. Du fühlst eine innere Unruhe, trotz körperlicher Erschöpfung. Du willst endlich „fertig“ werden.

Ok, weiter geht’s. Das Aufstehen schmerzt genauso wie die ersten Schritte, bevor du wieder im Trott bist. Geteiltes Leid ist halbes Leid – ihr klagt euch eure Schmerzen und versucht euch gleichzeitig wieder zu motivieren.

Bald wird es 1-stellig, d.h. unter 10 Rest-Kilometer. Wie lange hast du nun schon darauf gewartet?

Nach gut 16,5 - 17Std. hast du die 90km überschritten. Zunächst Freude pur! Leider fehlen seit etlichen Kilometern die motivierenden Schilder mit der Angabe der Rest-Kilometer, aber du hast ja deine Fitbit (oder ähnliches).

Nun fängst du an zu rechnen… 10km bei 5km pro Stunde (du bist langsamer geworden), das bedeutet noch gut 2 Std. marschieren. Der totale Motivationskiller!!!

Du versuchst diesen Gedanken schnell wieder zu vertreiben, indem du dir deine Trainingsläufe ins Gedächtnis rufst. Strecken von (lächerlichen) 10km und wie leicht sie dir fielen. Du denkst auch zurück an den Start deines Marschs bis zum ersten Versorgungspunkt… alles easy.

Diese „Bild“ hilft dir! Ihr sprecht darüber und erneut könnt ihr euch wieder motivieren. Ja, Motivation ist alles!

Dennoch die letzten Kilometer sind das Schlimmste – der Waldweg geht schnurgerade… null Abwechslung, bis zum Horizont (ja, das ist übertrieben, aber es kommt dir so vor).

Doch alles hat ein Ende, du weißt es und dann siehst du es auch. Rechts abbiegen, über die Brücke und schon bist du wieder im urbanen Umfeld.

Du willst einfach nur noch ankommen und hast gehofft, nach dem endlosen Wald kommt das Ziel. Leider sind es noch 3 Kilometer und auch diese ziehen sich.

Wie soll man es beschreiben? Hättest du von Anfang an 120km eingeplant würden dir die nächsten 3 Kilometer vermutlich leichter fallen, aber nun, so kurz vor dem Ziel, fühlst du eine unglaubliche Erschöpfung. Die Hoffnung auf das Ziel ist permanent gegenwärtig und wird dennoch mit jedem Abbiegen in eine andere Straße enttäuscht. Dein Gemütszustand ist entsprechend. Vielleicht murmelst du nun leise Flüche vor dich hin. Mit nachlassender Aufmerksamkeit und fehlender Ausschilderung läufst du nun auch noch Umwege. Die Stimmung ist nahe dem Nullpunkt und du fragst dich leise, nach links blickend: Wessen Idee war das eigentlich?

Wie gesagt, alles hat ein Ende und so auch die Tortur der 100km+.

Endlich siehst du das Ziel. Die Stimmung steigt von 0 auf 100. Nur noch wenige Meter trennen dich vom so lange ersehnten Zielbogen. Dann plötzlich wirst du aus der Trance gerissen. Dein Partner-/in will ins Ziel LAUFEN!

Was macht man nicht alles… Also, die letzten Kräfte mobilisieren und los geht’s.

Händchenhaltend und mit einem gequältem Lächeln posierst du für das Finisher-Foto. WOW - WAHNSINN - GESCHAFFT!!! Eine M..., ups nein, eine ULTRA-Leistung!

Stolz lässt du dich vom Veranstalter-Team feiern. Du holst dir deine Urkunde, Medaille und vor allen Dingen, das Finisher-Bier!

Geschafft und glücklich sitzt ihr an den Biertischen, beobachtet den Zieleinlauf vieler bekannter Gesichter… einfach nur schön. Da ist es wieder, das Glückshormon! Genau für diesen Momente hast du die letzten 19 Stunden gelitten (zumindest ab Kilometer 50).

Doch das Schlimmste sollte jedoch noch kommen - der Heimweg mit den Öffentlichen. Hiervon ist dringend abzuraten!

Weder Körper noch Geist sind nun noch auf deiner Seite. Mit kleinen Trippelschritten schleichst du dich Meter um Meter zur Bahn oder Bus – Quälerei pur!